Die Mutter eines 18-jährigen Sohnes weiß, dass seelische Tiefs auch eine Chance sind: „Meine Krisen haben mich auf den Weg gebracht und mich zu dem gemacht, was ich heute bin“
Im Fernsehen bleibt oft nicht genügend Zeit, um sich tief auf Menschen einzulassen.“ 30 Jahre stand Marie-Christine Giuliani (53) als Moderatorin vor der Kamera, jetzt kümmert sie sich als Psychotherapeutin um das Seelenheil ihrer Klienten. Ein Gespräch über Nullfehlertoleranz, eigene Krisen und Autobahnen im Kopf.
KURIER: Kennen Sie seelische Krisen auch aus eigener Erfahrung?
Natürlich, aber wer keine Krisen kennt, hat nicht gelebt. Entscheidend ist, was man daraus macht. Hinzuschauen auf die Ursachen, aufarbeiten was Sache ist und nicht erstarren in Angst, Schrecken und Verzweiflung. Das ist oft alleine nicht zu meistern. Ich habe und hatte zum Glück gute Freunde, die dann für mich da sind. Ich habe aber auch viele Menschen gesehen, die alleine waren und gescheitert sind.
KURIER: Viele Menschen scheuen sich davor, zu einem Therapeuten zu gehen bzw. darüber zu sprechen. Warum ist das so?
Ich denke, es liegt daran, dass es nicht genug Informationen darüber gibt, was ein Psychotherapeut so macht. Psychische Hilfe zu beanspruchen, wird als Schwäche gesehen, ist aber nichts anderes, als mit einer Grippe zum Arzt zu gehen. Es ist in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen, dass man psychische Probleme professionell lösen kann. Aber manchmal ist der Berg einfach zu hoch. Sich das einzugestehen, ist für viele die schwerste Hürde, aber der entscheidende Schritt.
KURIER: Was sind in Ihren Augen die Gründe dafür, dass die Zahl der psychisch Kranken zunimmt?
Der wichtigste Grund ist, dass wir endlich hinschauen und uns eingestehen, dass in unserer so modernen, perfektenWelt viele leiden. Psychische Krankheiten sind aber schon seit der Antike bekannt und beschrieben. Wir haben nun mal neben unserem Körper eine Psyche, einen Geist und auch eine Seele. Dieses Bewusstsein ist in den Zeiten der Digitalisierung verloren gegangen, beziehungsweise wurde es der Leistungsoptimierung geopfert. Alles geschieht heute lieber online als persönlich, gestern als heute, Dauerstress rund um die Uhr. Mit unserer zusätzlichen Informationsflut, die im wesentlichen Angst vermittelt, ist das dann der perfekte Nährboden für psychische Störungen.
KURIER: Was müsste geschehen, damit das Thema enttabuisiert wird?
Ich glaube, dass die Politik, die großen Versicherungen und alle sogenannten Gesundheitsorganisationen endlich anfangen müssten, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Davon hätten alle etwas: der Betroffene, seine Familie und das Gesundheitssystem. Psychotherapie kommt in der Prävention in unseren Spitälern nicht flächendeckend vor, deswegen entstehen auch Geschäftsmodelle, wo man den Leuten sagt, kommen Sie zu uns, wir reparieren Ihre Psyche – „Ich-krieg-dich-wieder-hin-Labors“. Gestresste Manager lernen Entspannungstechniken und bekommen Virtual-Reality-Brillen aufgesetzt, damit sie glauben, sie befinden sich im Wald. Es muss aber lohnend sein, denn sonst gäbe es diese Geschäftsmodelle nicht. Allerdings sind diese meiner Meinung nach nicht darauf ausgerichtet, Menschen zu unterstützen, bei sich selber anzukommen. Da geht es wieder nur um die Außenwirkung.
KURIER: Sie haben auch junge Klienten, gibt es da bereits ein Umdenken?
Viele Jungen haben das interessanterweise verstanden. Sie sagen, ich brauche Hilfe, ich komme mit meinem Leben nicht mehr zurecht, kann nicht schlafen, habe depressive Ansätze. Was junge Menschen belastet, ist im Prinzip alles, was die Alten belastet hat, als sie jung waren, nur unter den Gegebenheiten von heute – dazu gehört Mobbing oder den eigenen Selbstwert zu finden bei all dieser kranken Werbung.
KURIER: Was ist der Schlüssel zu psychischem Wohlbefinden?
Ich glaube, Wertschätzung ist das Wichtigste überhaupt. Eines der Hauptprobleme bei Burn-out ist die Nullfehlertoleranz und der Perfektionismus in der Gesellschaft. Weil wir dazugehören wollen, bekämpfen wir alles, was wir empfinden, wir können wenig wertschätzend annehmen. Dann geraten wir in die Problematik, dass wir uns immer mehr von uns selbst entfernen, weil wir uns nicht annehmen können. Wenn man sich selbst nicht mag, wie soll einen dann das Leben mögen?
KURIER: Auf Ihrer Website schreiben Sie „Glücklich sein ist eine Entscheidung“. Ist das nicht zu einfach?
Es geht hier um eine Ausrichtung, für die man sich bewusst entschieden hat. Dem zugrunde liegt die Erkenntnis, dass sich Wohlzufühlen etwas ist, das immer gegeben sein sollte. Wenn sich das Leben nicht richtig anfühlt, sollte man achtsam sein und versuchen herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten es noch gibt. Nobelpreisträger Eric Kandel hat es geschafft, einen Gedanken in die Petrischale zu legen und zu zeigen, dass dieser Gedanke Synapsen in unserem Gehirn wachsen lässt. Man kann sie sich vorstellen wie Autobahnen, auf denen wir mit unseren Gedanken stets hin und her fahren. Denken wir um, wachsen neue Synapsen, neue Bahnungen und neue Möglichkeiten entstehen, die uns vielleicht glücklicher machen.